Der Dünnschnabelgeier (Gyps tenuirostris)

 

 

Der Dünnschnabelgeier ist ein Altweltgeier aus der Gattung Gyps. Sein länglicher und schmaler Schnabel haben ihm den Beinamen Schmalschnabelgeier eingebracht. Mit Spannweiten zwischen 234-250 cm gehört er zu den größten Geiern. 

 

Sein Hauptverbreitungsgebiet befindet sich im niederen Himalaya auf dem Indischen Subkontinent und reicht von Pakistan über Nord-Indien, Nepal, Bhutan, Myanmar, Malaysia und Thailand bis nach Süd-Laos.

 

Bis Anfang der 1990er Jahre gehörte der Dünnschnabelgeier zu den häufigsten Geiern auf dem Land und in den Städten. In den Städten versammelten sich auf Plätzen und an Schlachthäusern hunderte dieser großen Geier ohne Scheu vor den Menschen an Kadavern und Aas. Trotz ihrer dunklen Erscheinung wurden sie in der Bevölkerung als wesentlicher Faktor in der Aas- und Leichenbeseitigung akzeptiert. Heute gelten sie als vom Aussterben bedroht. In manchen Gebieten Indiens gelten sie schon als ausgestorben.

 

 

 

 

Wie sieht der Dünnschnabelgeier aus?

 

In Größe und Spannweite ähnelt der Dünnschnabelgeier sehr dem Indiengeier. Anders als beim Indiengeier ist der Korpus jedoch schlank. Der Schwanz ist sehr kurz und deckt im Flug nur knapp die ausgestreckten Füße ab. Die Flügel sind lang und breit, die ersten Handschwingen sind kürzer als die inneren Amrschwingen, weshalb der Flügelhinterrand geschwungen ist. In allen Kleidern sind die Läufe fast weiß. Die Farbe des Deckgefieders variiert zwischen fast weiß bis zu einem cremigen hellbraun. Handschwingen und Armschwingen sind schwarz. Unterseite hell.

 

Kopf, Unterschnabel und Hals sind schwarz. Die Iris ist tiefbraun. Der Schnabel ist dunkelbräunlich mit einer schwach gelblichen Spitze.

 

duennschnabelgeier neil bowman istock
Dünnschnabelgeier - Source: Neil Bowman/Agentur iStock

 

Verbreitung und Bestandssituation beim Dünnschnabelgeier

 

Der Dünnschnabelgeier gehört zusammen mit Indiengeier und Bengalgeier zu den am meisten gefährdeten Geiern in ganz Südasien. In Indien wurde beim Dünnschnabelgeier ein fast vollständiger Zusammenbruch der Populationen festgestellt. Anfangs waren die Ursachen für das Massensterben noch vollkommen unklar. Erst nach langwierigen Untersuchungen konnte die Ursache ermittelt werden. Der Rückgang der Art liegt bei 97%. Damit gilt dieser Geier als vom Aussterben bedroht.

 

Die Ursache des katastrophalen Rückgangs lag in der Verwendung des Schmerzmittels Diclofenac in der Tiermedizin. Dieses Mittel ist schon lange erfolgreich in der Humanmedizin im Einsatz. Menschen mit orthopädischen Erkrankungen sind sogar auf dieses Mittel angewiesen. Deswegen wurde es auch später in der Tiermedizin eingeführt.

 

Da auch der Dünnschnabelgeier in Indien und den angrenzenden Staaten einen festen Platz in der Beseitigung von Tierkadavern und menschlichen Leichen hat, wurde er fast sofort ein Opfer dieses Schmerzmittels. Wie auch schon an anderen Stellen festgestellt, können Geier jegliche Art von Leichengift aufnehmen ohne daran Schaden zu nehmen. Nachdem die Ursache für das Geiersterben ermittelt war, verhängte die indische Regierung ein Verbot des Schmerzmittels in der Tiermedizin. Für die Geier kam das fast zu spät. Zu spät vor allem deswegen, weil bei einem Restbestand von ca. 3% die Überlebenschancen nur noch gering sind. Der Geier ist nun mal das Endglied einer Nahrungskette und wir haben hier leider lernen müssen, wie schnell Wildtiere Schaden nehmen können. Da bei den Geiern die Reproduktionsrate <1 ist, kann sich eine fast ausgestorbene Art nur sehr langsam erholen. Also alle Verluste, die oberhalb der Reproduktionsrate liegen sind kaum noch auszugleichen.

Bei den Gyps-Arten erreichen ohnehin nur ca. 50% der flügge gewordenen Jungvögel das Ende des ersten Lebensjahres und nur 8% erreichen überhaupt die Geschlechtsreife. In Anbetracht dieser Umstände kann dem Dünnschnabelgeier nur noch durch Zucht und Wiederauswilderung in Nationalparks geholfen werden.

 

Die Gesamtpopulation des Dünnschnabelgeiers wird auf nur noch 1.500-3.750 Individuen geschätzt.

 

Die Hilfsprogramme in Indien haben für die Geier ein Überleben in geschützten Nationalparks ermöglicht. Dort werden junge Geier aus der Zucht ausgewildert. Ausgesuchtes Futter erhalten sie an geschützten Futterplätzen. Somit ist ein Anfang gemacht. 

 

 

 

Steckbrief: Dünnschnabelgeier

 

Brutzeit – Gelege – Größe – Gewicht – Nahrung – Biotop – Alter

 

Systematische Einordnung:

Ordnung: Greifvögel (Accipitriformes)

Familie: Habichtverwandte (Accipitridae)

Gattung: Gänsegeier (Gyps)

Art: Dünnschnabelgeier - Schmalschnabelgeier

 

Namen und Synonyme des Dünnschnabelgeiers

 

Wissenschaftlicher Name: Gyps tenuirostris

 

Englisch: Slender-billed Vulture

Französisch: Vautour à long bec

Niederländisch: Dunsnavelgier

Italienisch: Grifone beccosottile

Finnisch: Gangesinkorppikotka

Dänisch: Smalnäbbad gam

Schwedisch: Smalnäbbad gam

Polnisch: Sęp bengalski

Nepali: सानो खैरो गिद्ध

Bengali: সরুঠুঁটি শকুন

Malaiisch: Burung Hereng Paruh Panjang

Tailändisch: อีแร้งสีน้ำตาล, อีแร้งสีน้ำตาลหัวดำ, อีแร้งสีน้ำตาลหิมาลัยgam

Chinesisch: 细嘴兀鹫

Chinesisch (traditional): 細嘴兀鷲

Russisch: Тонкоклювый сип

 

Beschreibung des Dünnschnabelgeiers

 

Vorkommen / Verbreitung: Das Verbreitungsgebiet des Dünnschnabelgeiers deckt die Staaten Pakistan, Nepal, Bhutan, der Norden und Osten von Myanmar, Kambodscha, Süd-Laos Malaysia und Thailand ab. In Indien vom Nordwesten des Landes bis zum Bundesstaat Assam.

 

Wanderungen: In seinen Brutgebieten ist der Dünnschnabelgeier Standvogel. Bei Nahrungsverknappung werden Ausweichbewegungen ausgeführt, um ein Überleben zu ermöglichen. Junge Dünnschnabelgeier begeben sich nach dem Abzug aus dem Brutrevier der Altvögel auf Zerstreuungswanderungen.

 

Lebensraum – Biotop: feuchte und bewaldete Habitate, auch in der Nähe von Siedlungen und Ortschaften. Offene Landschaften. Im Gebirge ist der Dünnschnabelgeier bis in Höhen von 1000 m anzutreffen. Vorgebirge des Himalaya.

 

Verhalten: Der Dünnschnabelgeier ist ein sehr guter Gleit- und Segelflieger. Als Kadaververwerter ist er regelmäßig auf Suchflügen unterwegs, um neues Aas zu finden. Im Gleit- und Segelflug kann er sich bis in Höhen von 1.500 m emportragen lassen. An Luderplätzen erscheint der Dünnschnabelgeier nur in kleinen Trupps und ist dort zusammen mit Kahlkopfgeier und Bengalgeier anzutreffen. Da diese Geier als recht aggressiv gelten kommt der Dünnschnabelgeier erst nach diesen an das Aas. Am Luder gilt die Rangordnung: KahlkopfgeierBengalgeier - Dünnschnabelgeier. Regelmäßig an Müllhalden und Schlachthäusern anzutreffen.

 

 

Kennzeichen: Großer Geier mit langen, breiten Flügeln und leicht weißlich bedunten Hinterkopf und Hals. Hals und Kopf mit schwärzlicher Haut. Sehr kurzer Schwanz. Helle bis weißliche Ober- und Unterflügeldecken. Hand- und Armschwingen schwärzlich. Unterseite hell mit fast weißer Laufbefiederung.

 

Schnabel: bräunlich mit gelblicher Spitze.

Wachshaut: schwarz

 

Läufe: dunkelgrau.

 

Iris: tiefbraun.

 

Größe: 93-100 cm

Schwanzlänge: 24-26 cm

Gewicht: 4.000-7.000 g

Spannweite: 234-250 cm

Flügellängen: 590-607 mm

Geschlechtsreife: wahrscheinlich im fünften Lebensjahr, mit dem Ausfärben in das adulte Kleid.

 

Stimme - Ruf: schnarrende und grunzende Laute, vor allem beim Fressen werden grunzende Laute geäußert.

Paarungszeit: Die Paarungszeit beginnt mit der Balz vor Beginn der Brutzeit ab Oktober.

 

Bruten: 1 Jahresbrut

Eiablage: frühestens ab Oktober

Brutzeit: abhängig vom Brutgebiet: Myanmar ab Oktober, meistens jedoch zwischen Dezember und Januar.

 

Nest: Das Nest ist ein großer umfangreicher Bau aus Ästen, in das auch viel frisch gebrochene Äste und grüne Zweige eingearbeitet werden.

Neststandort: Der Dünnschnabelgeier errichtet seinen Horst auf großen Bäumen, gewöhnlich in Höhen zwischen 7-15 m. Im Gebirge werden die Horste auf Felsbändern angelegt.

 

Gelege: 1 Ei

Eier: Ei mit weißer Schale, mit rötlichen Flecken und Tupfen.

 

Eimasse und Eigewichte

Länge x Breite: 92,5x69,3 mm

Gewicht: ≈ ??? g

 

Nachgelege: Keine Nachweise, jedoch unwahrscheinlich.

 

Brutdauer: 50 Tage; ♂ und ♀ brüten abwechselnd

 

Nestlingsdauer - Führungszeit: bedunte Nesthocker, die von beiden Altvögeln gefüttert werden. Über die genaue Nestlingsdauer liegen keine Nachweise vor, est ist jedoch von ca. 80-90 Tagen auszugehen.

 

Flügge: Es ist anzunehmen, dass - wie auch bei den anderen Altweltgeiern - die jungen Dünnschnabelgeier nach dem Ausfliegen noch mehrere Wochen von den Altvögeln betreut werden. Es existieren keine genauen Daten.

 

Nahrung: Der Dünnschnabelgeier ist ein reiner Aasfresser. Als Beute kommt alles Fallwild, Kadaver von Rindern, menschliche Leichen, totes Vieh nach Ausbrüchen von Viehseuchen in Frage. In Indien war der Dünnschnabelgeier als „Entsorger“ von Leichen, Fallwild und Kadavern bekannt und von der Bevölkerung akzeptiert. Regelmäßig an Müllhalden und Schlachthäusern anzutreffen.

 

Lebensdauer: 30-40 Jahre, in Gefangenschaft können höhere Lebensalter erreicht werden.

 

Mortalität - Sterblichkeit: Junggeier der Gattung Gyps sind in den ersten 2 Monaten noch sehr gefährdet. In dieser Zeit kommen die meisten der ausgeflogenen Individuen um. Wenn der Junggeier die ersten 2 Monate überlebt hat, steigen seine Chancen, die Brutreife zu erreichen. Nur 50% der Junggeier erreichen überhaupt das Ende des ersten Lebensjahres. Nur 8% erreichen noch die Brutreife.

 

Feinde und Gefährdungen: Gezielte Vergiftung. Verfolgung in Laos. Nahrungsmangel in Kambodscha, Abholzung der Brutbäume in Nepal. In den 1990er machte sich beim Dünnschnabelgeier die Verwendung des Wirkstoffes Diclofenac in der Tiermedizin negativ bemerkbar. Durch dieses Mittel wurde der Bestand innerhalb kürzester Zeit um ca. 97% verringert. Diclofenac führt bei den Geiern zu akutem Organversagen und Tod.

 

 

 

Quellennachweise

 

Brown, Leslie, Die Greifvögel, Ihre Biologie und Ökologie, Paul Parey Verlag Hamburg und Berlin, 1979

Ferguson-Lees, James, Christie, David, Raptors of the World, A Field Guide, Christopher Helm London, 2005, reprinted 2019

Fischer, Wolfgang, Die Geier, Die Neue Brehm-Bücherei, A. Ziemsen Verlag Lutherstadt Wittenberg, 1963

Grzimek, Bernhard et al (HG), Grzimeks Tierleben, Band VII, Vögel 1, Kindler Verlag AG Zürich, 1968

Weick, Friedhelm, Die Greifvögel der Welt, Verlag Paul Parey Hamburg und Berlin, 1980

 

Bildnachweise

 

Dünnschnabelgeier - Source: Neil Bowman/Agentur iStock